September 2023 | Zwölf Monate, zwölf Menschen | Porträt über Julia Bühner
September 2023 | Zwölf Monate, zwölf Menschen | Porträt über Julia Bühner

„Aus dem Zufall wurde ein Glücksfall“

Julia Bühner betritt mit ihrer Doktorarbeit zur Völkerrechtsgeschichte der Eroberung der Kanarischen Inseln wissenschaftliches Neuland. Dafür erhielt sie im September eine Sonderauszeichnung des Förderpreises für junge Historikerinnen und Historiker von der Stadt Münster.
Julia Bühner vor dem Friedenssaal: Der hier im Jahr 1648 beschlossene Westfälische Frieden gilt aus europäischer Sicht als Meilenstein der Völkerrechtsgeschichte.
© Uni MS - Nike Gais

Gran Canaria, Teneriffa, Fuerteventura – die meisten denken dabei an Strandurlaub. Nicht so Julia Bühner: Die Historikerin hat für ihr Dissertationsprojekt in Archiven und Bibliotheken auf den Kanarischen Inseln geforscht. Zum Sonnen und Baden gab es dabei wenig Gelegenheit, im Gegenteil. „Die Universität von Teneriffa liegt in La Laguna, in einem Tal umgeben von Lorbeerwäldern. Da war das Wetter eher so wie in Münster“, berichtet sie. Grund ihrer Aufenthalte war ihre Forschung zur Völkerrechtsgeschichte der Eroberung der Kanarischen Inseln durch die Krone von Kastilien in den Jahren 1402 bis 1496. Dafür bekam sie von der Stadt Münster eine Sonderauszeichnung des Förderpreises für junge Historikerinnen und Historiker verliehen. Die Jury würdigte den disziplinübergreifenden Ansatz der Arbeit, mit dem sie „mutig wissenschaftliches Neuland betritt“.

Aufgewachsen in der Nähe von Werl, lag ein Studium an der Universität Münster nahe. Schnell war Julia Bühners Leidenschaft für die Geschichte des Mittelalters entfacht. „Aus dem Schulunterricht brachte ich wie die meisten Studierenden kaum Vorwissen über das Mittelalter mit und wurde dann vom Facettenreichtum dieser Epoche überrascht. Dass die mittelalterliche Geschichte in Münster so breit aufgestellt ist, war mir vorher nicht bewusst. Aus dem Zufall wurde für mich ein Glücksfall“, erinnert sie sich. Ein Masterseminar zum mittelalterlichen Völkerrecht und ihre Freude an der spanischen Sprache führten sie schließlich zu ihrem Dissertationsthema.

In ihrer Promotionsschrift relativiert sie die gängige Vorstellung, dass das Völkerrecht eine rein europäische Errungenschaft sei. „Unter anderem gilt der Westfälische Frieden als Meilenstein der Völkerrechtsgeschichte, bei dem die Grundlagen des modernen Staatensystems gelegt wurden. Diese Sichtweise ist aber sehr europazentriert. Mich interessiert, ob es auch in anderen, etwa indigenen Kulturen, Pendants zu dem gibt, was wir heute unter Völkerrecht und internationalen Beziehungen verstehen“, erläutert die Historikerin. „Europäer sind nicht die alleinigen handelnden Akteure“, lautet eine ihrer Schlussfolgerungen. „Wir sollten Eroberung mehr als Begegnung zwischen den Kulturen begreifen, bei denen unterschiedliche Normativitäts- und Rechtsvorstellungen aufeinandertrafen.“ Dabei gehe es nicht darum, den gewaltsamen Akt der Eroberung zu leugnen, sondern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass auch indigene Völker zu den Errungenschaften der modernen Welt beigetragen hätten.

Julia Bühner arbeitete mit Quellen verfasst auf Mittelspanisch, Mittelfranzösisch und Latein, wie etwa päpstliche Bullen, königliche Erlasse und Gelehrtentraktate. Allein die vormodernen Sprachstufen waren eine Herausforderung. Umso größer war ihre Freude über die Auszeichnung der Stadt Münster. Vor allem die Laudatio von Prof. Dr. Wilfried Reininghaus hat sie beeindruckt. „Das war meine erste Laudatio und ein besonderer Moment, von anderen etwas über die eigene Forschung zu hören und dafür so viel Wertschätzung zu erfahren“, schildert sie ihre Eindrücke. „Dieses Feedback noch vor Erscheinen meines Buches bedeutet mir sehr viel.“

Während ihrer Promotion bei Prof. Dr. Martin Kintzinger am Historischen Seminar profitierte Julia Bühner vom fruchtbaren Umfeld an der Universität Münster. Hinzu kamen wichtige Impulse aus dem Doktorandenkolloquium am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie in Frankfurt, dessen Direktor Prof. Dr. Thomas Duve ihre Dissertation mitbetreute. Münster war der richtige Ort für die Historikerin, die beim Klavierspiel ihren Ausgleich findet. „Ich liebe den Domplatz, das Fürstenberghaus und die Bibliotheken“, sagt sie. An ihrem Wohnumfeld in Gievenbeck mag sie das viele Grün. Vielleicht fliegt sie irgendwann zum Baden auf die Kanaren? „Eher nicht“, sagt sie und lacht, „viel interessanter finde ich die archäologischen Ausgrabungsstätten. Hier wird noch viel geforscht, und es ist zu erwarten, dass wir in Zukunft noch Neues über die faszinierende Geschichte der Kanarier lernen können.“

Anke Poppen


Dieser Beitrag stammt aus der Broschüre „Zwölf Monate, zwölf Menschen“, erschienen im Februar 2024.

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